In der Mittagszeit sah ich einen Patienten im Rollstuhl vor diesem Fenster. „Was hat der Engel in der Hand?“ fragte er. „Ist die Blume eine Rose?“ Einen Augenblick blieb es still. „Kennen Sie die Geschichte von Rainer Maria Rilke und der Rose?“ fragt er und begann ohne meine Antwort abzuwarten zu erzählen:
Der Dichter sei in Paris immer wieder an einem großen Platz an einer Bettlerin vorbeigegangen, die da ohne jemanden anzuschauen saß. Die Frau habe immer an der gleichen Stelle gesessen. Nie habe sie gedankt, wenn jemand ein Geldstück gab. Rilke gab ihr nie etwas. Aber seine französische Begleiterin habe ihr häufig ein Geldstück hingeworfen. Einmal habe ihn die Französin gefragt, warum er nichts gäbe. Rilke habe geantwortete: "Wir müssen ihrem Herzen geben, nicht ihrer Hand." Der Patient hatte jetzt Tränen in den Augen. „Und wissen Sie, was dann passierte? Rilke brachte am nächsten Tag eine frische Rose mit, legte sie in die offene Hand der Bettlerin. Und - die blickte auf, sah Rilke an, suchte nach seiner Hand, küsste sie und ging mit der Rose davon. Danach ist ihr Platz eine Woche leer geblieben“, sagte er. „Eine Woche lang hat sie von der Rose gelebt!“
Der Patient im Rollstuhl verstummte und begann zu schluchzen. Dann sagte er: „Mir ist es genauso ergangen. Nach dem Schlaganfall habe ich gedacht, jetzt ist alles aus, nichts hat mich mehr interessiert. Aber die Krankenschwestern und Ärzte haben sich so bemüht. Die haben nicht nur getan, was sein musste, sie haben mir mit so vielen liebevollen Zeichen mein Ansehen wieder gegeben. Auch meine Familie. Alle haben mein Herz beschenkt. - Davon kann ich jetzt leben.“
Ihnen wünsche ich, dass auch ihr Herz immer wieder einmal so beschenkt wird. Ganz herzlich lade ich Sie in unsere Kapelle ein. Sie finden sie am Haupteingang des HKZ Rotenburg. Der Zugang ist barrierefrei.
Gottes Segen
Ihr Diakon Johannes Wiegard
Fotos: ©Kammerer (4) Wiegard (3)